Hier kommt Anna, dve generace evropanu
Zahlreiche Verbindungen gibt es zwischen den Glasmacherzentren in der Groß/Grande Région, wo Anna aufgewachsen ist, und den Kristallerien in Tschechien, woher ihre Eltern kommen. Hier ein Blick ins Atelier à froid der Cristallerie Saint Louis-lès-Bitche, nur ein paar Kilometer entfernt von der deutsch-französischen Grenze zwischen Lothringen (Région Grand Est) und Rheinland-Pfalz. Anna hat das Foto aus dem regiofactum-Fundus ausgesucht (die arge lola/regiofactum).
Ich bin ein europäisches KindTschechische Eltern, geboren in Deutschland, in der Grenzregion zu Frankreich aufgewachsen und studiert. Regelmäßig die Grenze zu Tschechien zu überqueren, ist für mich normal. Als ich ein kleines Kind war, wurde sie noch kontrolliert, das fand ich damals umso spannender und markierte für mich immer den Beginn – oder auch das schmerzliche Ende – einer tollen Zeit mit der Familie. Heute nehme ich sie kaum noch wahr. Zumindest bis vor Kurzem. Während der Coronavirus-Pandemie und der damit einhergehenden Grenzschließungen konnte ich das erste Mal in meinem Leben nicht eben mal zu meinen Großeltern „rüberfahren“. So wurde mir schmerzlich bewusst, was eine Grenze auch bedeuten kann. Was sie für meine Eltern bedeutete, hinter dem Eisernen Vorhang, kann ich jedoch nur erahnen. Deshalb habe ich mich auf Spurensuche begeben und meine Eltern befragt.
Anna Klapetek
A: Anna
P: Papa
M: Mama
A: Was bedeuten Grenzen für euch?
P: Jedes Übertreten einer Grenze war für mich etwas Besonderes. Grenzen waren eine Eingrenzung des Gebiets, wo ich lebe, unter dem Kontext, wo ich leben muss, weil das Regime mich dort zum Wohnen verdammt hat. Aber die Sehnsucht nach der Weite hat mich dazu gebracht, auch andere Länder kennenlernen zu wollen. Wenn du etwas nicht machen kannst, ist die Sehnsucht danach, Neues kennenzulernen, umso größer und tiefer.
M: Grenzen waren für mich vor allem Angst. Habe ich alles? Mache ich etwas falsch? Schnappen sie mich? Muss ich zurück? Aber es war gleichzeitig die Angst vor einer Autorität.
P: Es war eine künstlich hervorgerufene Angst das Land zu verlassen. Selbst, wenn man nur kurz Bekannte oder Freunde hinter der Grenze besuchen wollte.
A: Hat sich eure Wahrnehmung einer Grenze im Laufe der Zeit gewandelt?
M: Ich hatte danach noch sehr lange Angst Grenzen zu überqueren. Habe ich eigentlich heute noch (Bsp. Amerika). Bei Ländern, die man nicht kennt. Bei Autoritäten, bei denen man nicht weiß, was sie mit dir machen. Heute ist es aber auch ein schönes Gefühl. Wenn ich heute nach Tschechien fahre, denke ich mir hinter der Grenze immer mit Erleichterung: „Jetzt habe ich es geschafft, jetzt bin ich zu Hause.“ Komischerweise habe ich dieses Gefühl auf beiden Seiten. "Hinter" der Grenze fühle ich mich immer frei.
P: Ich versuche, mich von autoritären Staaten fernzuhalten. Vor der Grenze an sich habe ich keine Angst. Ich fühle mich aber wie ein Europäer. Ich kann in 27 Länder mit meinem Ausweis über die Grenze fahren. Und kann mir notfalls von überall aus helfen lassen. Schon bei Flughäfen, wenn ich die Einteilung sehe in „Europäer“ und „Nicht-Europäer“, da fühle ich mich klar als Europäer. Ich fühle mich als Tscheche, der in Europa lebt. Ich fühle mich ganz zu Europa hingezogen. Ich möchte offene Grenzen.
A: Welche Vor- und Nachteile seht ihr in grenznahen Gebieten?
Siehst du, Papa, Parallelen zwischen der Grenzregion in
Tschechien zu Polen und hier in Deutschland zu Frankreich?
P: Das kann ich schlecht vergleichen, weil wir nicht einfach
nach Polen fahren konnten und eine Ausreise-Genehmigung gebraucht haben. Da
mussten wir sogar festhalten, welche Gegenstände und wieviel Geld wir mitgeführt
haben. Das Gleiche bei der Wiedereinreise. Wir sind aber durchaus dort
einkaufen gefahren, vielleicht 2-3 im Jahr. Das waren Süßigkeiten und
Drogerieartikel, das waren andere Produkte als in Tschechien. Ich war ein paar
Mal auf Austausch im Rahmen von Sportvereinen. Es gab einen friedlichen
Austausch und Miteinander der beiden Nationen, wie auch hier zwischen
Deutschland und Frankreich. Definitiv leichter war es mit der Sprache in der
Grenzregion, weil beide Seiten miteinander gut kommunizieren konnten. So haben
wir als Kinder bereits polnisches Fernsehen geschaut und beide Seiten hatten
jeweils andere Produkte, die die jeweils andere Nation gekauft hat. In Polen
z.B. waren Vorhänge viel billiger sowie Textilien, die wir gekauft
haben. Polen wiederum haben bei uns technische Produkte eingekauft (nicht nur
billiger, vieles konnte man dort nicht bekommen).
Zum Foto:
Völklingen an der Saar mit seiner Eisenhütte ist für
Annas Papa "wie zuhause". Er kommt aus Opava (Industrieballungszentrum
von Ostrava). Anna hat das Foto für ihn aus dem regiofactum-Fundus ausgesucht; gemacht hat es Kai Loges, die arge lola/regiofactum.
M: Nach Ostdeutschland ist man zum Schuhe kaufen gefahren,
vor allem Kinderschuhe. Und Ostdeutsche haben bei uns viel Konserven
gekauft, wie Ananas und Mandarinen, die dort nur schwer zu bekommen waren.
Jeder hatte jeweils seine Lieblingsprodukte, ob es jetzt Wurst oder Textilien
waren.
Oftmals sind auch jahrelange Freundschaften aus diesem Austausch
entstanden.
P: Nach Ungarn ist man wiederum für ungarische Salami und
Drogerieartikel gefahren. Dort waren westliche Produkte viel eher zu bekommen.
Vor allem Schallplatten!
Der Austausch zwischen Deutschland und Frankreich erscheint
schwieriger, da Deutsche häufig kein Französisch sprechen und nur noch ältere
Elsässer gut Deutsch zu sprechen scheinen. Gerade bei der jungen Generation kann
man nicht einfach davon ausgehen, dass sie noch Deutsch spricht.
Kurzum: Man versucht, sich aber immer irgendwie zu verständigen, notfalls mit Händen und Füßen und auf die andere Person zuzugehen.
A: Werden Grenzen in den Ländern anders wahrgenommen? (Tschechien – Deutschland)
P: Unsere Generation hat in Tschechien allgemein größeren Respekt vor Grenzen, als es Westdeutsche unserer Generation haben. Gefühlsmäßig waren wir früher auch beim Grenzübertritt von Deutschland nach Frankreich unsicher. In den 30 Jahren, in denen wir hier leben, hatten wir aber noch nie (!!!) ein Problem mit Franzosen, sei es zivil oder bei Kontrollen mit Polizisten. Alle waren stets sehr nett und freundlich.
M: Ich denke, dass Menschen in grenznahen Regionen sehr viel hilfsbereiter und toleranter gegenüber Fremden als in Zentren der Länder sind, weil sie öfter damit konfrontiert werden.
Beide: Die Angst vor den Autoritäten an der Grenze ist eindeutig geblieben als Überbleibsel unserer Vergangenheit.
P: Erhöhter Respekt vor allen Autoritäten, Polizei, Behörden, Zoll. Bestimmt mehr als andere Deutsche…
Vielen Dank liebe Anna und Familie für eure Bereitschaft, am Blog mitzumachen!
Sehr interessanter Blick auf die erlebt und gefühlte Grenze!
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